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Zackes Textedition 9:
Diese Texte habe ich für Sabine geschrieben. Ich hoffe aber, daß sie auch
Thomas gefallen. Grüßen möchte ich außerdem die beiden Gottfrieds, den raren
Siegfried, Günther, Andi, Andrea und Simone, Stefan, Rüdiger und der nette Ikea-Hund mit
der unbekannten Frau aus der U-Bahn.
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24.11.01
Death Trip:
Wenn ich traurig bin, krame ich ein altes Tonband heraus. Es fängt gleich mit
diesem Stück von Steve Harley und Cockney Rebel an. Ich habe es um 1976 herum auf das Band
gespielt. Das Stück ist wahrscheinlich noch älter. Ein Zeit lang besaß ich die
Orginal LP, auf der es erschienen ist. Vielleicht habe ich mein altes Tonbandgerät nur wegen
diesem Stück. Es dauert über zehn Minuten und es geht darin sehr kitschig aber schön
um's Sterben. Das Ende eines jungen, verweigerten Lebens wird besungen. Stell Dir vor, ganz
unheilig und langsam zu sterben. Hast Du jemals daran gedacht? Gibt es überhaupt einen Grund
zu bleiben? - Heute kann man mit sowas kaum noch provozieren.
Das schöne Stück tröstet nicht, aber es macht auch nicht trauriger. Alles
bleibt so wie es ist. Das ist wunderbar, um traurig zu sein und in Traurigkeit zu schwelgen. Das
Stück hält kaum einer ernsthaften musikalischen Analyse statt, doch welche Musik dieser
Art tut dies überhaupt? Es hat andere Qualitäten. Die reichen bis an BWV 104 heran, jene
sich ebenfalls wunderbar anfühlende Trauerkantate.
Das alte Band ist schon sehr abgenutzt. Der Ton zittert. Trotzdem möchte ich das
Stück nicht auf CD besitzen. Dann könnte ich mich nicht mehr erinnern, wie oft mich diese
Musik nicht getröstet hat. Eine digitale Aufnahme wäre ohne jegliche Wirkung.
Das Band nutzt mit jedem Hören etwas ab. Es nutzt immer mehr ab. Irgendwann wird es
lauter knistern als die Musik. Dafür nehmen meine Erinnerungen mit jeden Abspielen zu und
gleichen aus, was der Musik fehlt. Irgendwann wird das Band nur noch knistern und keine Erinnerung
mehr nähren. Schließlich wird das Band nichtmal mehr knistern. Dann werde ich nie mehr
traurig sein können.
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25.11.01
Der Alleinerziehende:
Er wohnt allein, ist immer da und niemand weiß genau, wovon er lebt. Er geht nur
zum Einkaufen raus und läßt absolut niemand in seine Wohnung. Die Hausverwaltung hat es
aufgegeben, ihm Handwerker zu schicken. Er repariert selbst. Wenn man ihn trifft, grüßt
er nett. Sonst erzählt er aber nichts. Er redet nichtmal mit den Verkäuferinnen in den
Geschäften. Viele kennen ihn und die eine oder andere mag und bewundert ihn sogar. Er redet
nun dann etwas mehr, wenn er zum Beispiel genau erkären soll, was er haben möchte. Er
drückt sich äußerst exakt mit unglaublich wenigen Worten aus. Wenn jemand fragt, wie
es ihm geht, sagt er nur: "Gut!"
Im Gardinenladen, wo er meistens nur Kurzwaren kauft, zum Beispiel billigen
Nähfaden, hatte es sich die Verkäuferin mit ihm verdorben. Er erklärte in einem
einzigen Satz, welches und wieviel Material er für seine neuen Stores benötigt. Sie war
überrascht und fragte, ob er denn aus ihrer Branche käme. Er hat es seitdem noch eiliger,
das Geschäft zu verlassen.
In seinem Wohnzimmer stand früher eine größere Palme, wegen der er
höhere Heizkosten in Kauf nahm, damit sie nicht eingeht. Er hatte vor Jahren ein Buch gelesen,
das Pflanzen als wahrnehmungsfähige Lebewesen beschreibt. Auch las er in Zeitungen über
Experimente, inwieweit Pflanzen besser wachsen, wenn sie von Menschen nett behandelt werden. In
einem Artikel stand, daß Pfanzen auf Musik reagieren und daß Hanf bei der Musik von
Greatful Death am allerbesten gedeiht. Leider war nicht erklärt, warum das so ist.
Er redete viel mit seiner Palme. Er spielte nur Musik, die Ihr gefiel. Sehr viel Brian
Eno und guten Roots-Reggae. Wenn er mal Sepultura oder Badbrains spielte, stach er sich an einer
Palmblattspitze. Die Palme hat mich wieder gestochen, dachte er sich.
Als es die Palme noch gab, bemerkte er eines Tages etwas weißes in der Erde im
Kübel. Ein Würzelchen oder ein Seitentrieb, nahm er an. Es quoll jeden Tag ein wenig. Es
rollte beim Gießen ein bißchen herum. Er überlegte jedes Mal. Ich schmeiße doch
nichts da hin. Was kann das nur sein. Eines Tages popelte er bei der Palme stehend in der Nase und
erschrak. Also nicht dahin damit, murmelte er mehrmals.
Der Popel im Kübel war bald nicht mehr zu übersehen. Nur er sah ihn. Er traute
sich nicht, ihn wegzunehmen. Meine Palme würde mich stechen. So wuchs er weiter. Mit
zunehmender Größe neigte sie ihre Blätter immer tiefer, so daß er den Popel
irgendwann nicht mehr sehen könnte. Er goß vorsichtig von oben. Gelegentlich raschelte es
dabei unter den Blättern und es kam ihm ganz deutlich so vor, als ob die Palme eine hohe
elektrische Spannung über das Wasser und durch die Gießkanne in seinen Körper
schickte. Er zuckte jedes Mal zusammen, was für ihn der Beweis all seiner Theorien über
Pflanzen war.
Die Palme wurde krank und immer kränker. Es gab keine Musik mehr, die ihr zusagte.
Alles liebevolle Zureden half nichts. Er hätte aus Sorge den Popel fast vergessen, wenn dieser
nicht plötzlich wie nach einer normalen Entbindung geschriehen hätte. Als er die
Nabelwurzel durchschnitt, spürte er, wie die Palme starb. Er wickelt ihr Kind, ein Junge, in
ein Frotteehandtuch und flößte ihm verdünnte Sojasoße mit etwas Honig ein. Der
unerwartete Sohn schlief daraufhin.
Er legte ihn vorsichtig in den Wäschekorb, ließ den Deckel etwas offen und
rannte in's nächst beste Kaufhaus. Das tat er noch öfter, bis er alles zusammen hatte,
was er für den Sprößling benötigte. Er sprach ausgiebig mit den freundlichen
Verkäuferinnen aus der Babyabteilung, um möglichst viel über den richtigen Umgang
mit Kleinkindern zu erfahren. Er besuchte einen Volkshochschulkurs für alleinerziehende
Väter.
Sein Sohn geht heute in's Gymnasium, schreibt über alle Nachbarinnen des
Wohnviertels Gedichte, die dem altgewordenen Herrn jedes Haar zu Berge stehen lassen. Er
erzählt, sein Vater wäre Schriftsteller und er wolle einmal noch besser werden.
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07.12.01
Zwanzig Minuten:
Zwischen Lichterfelde Süd und Hennigsdorf fahren die Züge im Abstand von
zwanzig Minuten. Die U-Bahnen fahren im Abstand von wenigen Minuten. Jeden Tag muß ich von der
U-Bahn in die S-Bahn umsteigen. Da ich mit der U-Bahn jederzeit wegkomme, halte ich mich an keine
genaue Abfahrtszeit. So kann es geschehen, daß mir die S-Bahn wie man so sagt, vor der Nase
davonfährt. Das bedeutet, zwanzig Minuten auf die nächste Bahn zu warten.
In dieser Zeit macht es keinen Sinn, darüber nachzudenken, was man solange an einem
anderen Ort alles erledigen könnte. Da ich über die Vermeidung dieses Problemes nicht
weiter nachdenke, kenne ich den S-Bahnhof Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik inzwischen recht gut. Ich
hab dort bereits zu unterschiedlichen Zeiten gewartet, doch am besten kenne ich diesen Ort zwischen
6 Uhr 25 und 6 Uhr 45 in der Frühe.
Es kommen jeden Tag fast die selben Leute, um zu warten. Wenn ich alleine warte, riecht
es nach Kakau und Pumpernickel, weil in der Klinik gerade das Frühstück vorbereitet wird.
Meistens laufe ich am Rand der Bahnsteigkanten auf und ab.
Als der Bahnhof gebaut wurde, war die Strecke zweigleisig. Auf der einen Seite befinden
sich keine Gleise. Hier wartet es sich besonders gut, weil in absehbarer Zeit kein Zug kommen wird.
Die Zeit vergeht hier gleichmäßiger, als auf der anderen Seite. Wenn ein Zug in
Sichtweite erscheint, vergeht die Zeit immer langsamer, bis sie wie dieser einen kurzen Augenblick
stehen bleibt. Die Verlangsamung der Zeit beginnt mit dem schabenden Geräusch in den Schienen,
das dem Zug voraus eilt. Man hört ihn etliche Sekunden früher. Ich habe jedesmal das
Bedürfnis, den im Führerstand deutlich zu erkennenden Zugführer zu grüßen.
Doch er würde nie zurückgrüßen, deshalb grüße ich auch nicht.
Eine Zeit lang beobachtete ich einen Mann in blauer Arbeitskleidung, der jeden Morgen
auf den Gegenzug wartete und nicht einstieg. Wenn der Zug weg war, verließ er den Bahnhof
wieder. Vielleicht kam er nur zum Rauchen.
Die meisten steigen immer an der gleichen Stelle in den Zug. Der Zug hält mit einer
erstaunlichen Präzision ebenfalls immer an der selben Stelle. Nur die von innen beleuchteten
Anzeigetafeln sind weniger zuverlässig. Manchmal leuchten sie nicht oder sie wurden nicht
umgeschaltet und zeigen den falschen Zug an. Meistens fragt dann jemand, wohin der nächste Zug
fährt.
Es gibt zwei Streckentelefone. Das eine klingelt Tag und Nacht. Es klingelt nicht laut.
Deshalb stört es niemand.
Einmal mußte ich erst später in Hennigsdorf sein. Es war früher Herbst
und schon so lausig kalt, daß man die Kälte beinahe anfassen konnte. Die noch nicht
ausgeschlafene Sonne schickte ihr Licht in herrlich warmen Farbtönen durch die goldgelben
Blätter der Laubbäume. Leider hatte ich meine Kamera nicht dabei. Dafür fuhr der Zug
einen anderen Weg. Es ging durch sämtliche Herbstlandschaften dieser Welt. Ich wußte aber
nie, wo ich gerade war. Ich sah nur dieses wunderbare Licht. Ich spürte es. Manchmal wuchsen
die Bäume sehr nah am Gleis. Ich hörte, wie sie vorsichtig den still eilenden Zug
entlangstreiften. Ab und zu fiel ein schönes Blatt einer mir unbekannten Baumart durch die
offene Fensterklappe. Ich staunte und vergaß, mich zu wundern, was wohl geschehen war.
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11.12.01
Schredder:
Mein Weg führt mich morgens durch einen düsteren Park. Ich weiche Pfützen
aus, wenn ich sie sehe. Ich kann diesem Ort auch tagsüber wenig abgewinnen. Nur im Herbst,
wenn die Arbeiter vom Gartenamt aus vier Gitterzaumelementen ein Karree bauen und es mit Laub
füllen. All die Blätter, die über eine so große Fläche verstreut rumlagen,
müssen sich nun mit ein paar wenigen Quadratmetern begnügen. Welch' ungewohnte Enge
für sie!
Ich kann es kaum erwarten, mich der großen Straße zu nähern. Je mehr
Licht in den Parkt dringt, je weniger er ein solcher bleibt, desto deutlicher höre ich das
tiefe, anheimelnde Dröhnen des Verkehrs. Wie emsige Hummeln. Wie ein riesiger Schwarm, in dem
man das einzelne Tier nicht mehr hört, den man wie ein einziges großes Wesen wahrnimmt.
Nun sehe ich die Autos, Stück für Stück, schon so früh am Tag an mir
vorbeieilen. Wen sowas nicht beeindruckt, der muß gefühllos sein.
Ich verschwinde im U-Bahnschacht, immer noch das Tosen im Ohr. Mein Weg führt
leider woanders hin. Es wird immer stiller. Es klingt fast tot. Die Bahn erinnert mich nicht im
Geringsten an das Leben über der Erde. Selbst das dauernde Fahrgeräusch im Zug klingt
dünn. Viel zu hoch und kalt. Ich bin froh, wenn ich irgendwo wieder ans Tageslicht
emporsteigen darf und mich das vertraute Summen der Straße empfängt. Leider ist es
manchmal viel zu ruhig. Zum Glück aber nur selten.
Wenn ich Zeit habe, suche ich mir eine Kreuzung und bleibe auf der Mittelinsel stehen.
Ich gehe in dem von mir so geschätzen Klang völlig auf. Die Straße wird breiter. Ich
kann die Spuren der vorbeiziehenden Autoreihen kaum noch abschätzen. Irgendwann sehe ich das
Ufer der anderen Straßenseite nicht mehr. Meine Insel schwimmt auf einem großen Meer. Der
Boden zittert sanft. Fast scheint mir, meine Insel schaukelt wie ein Schlauchboot auf dem
Ozean.
Wo treibt sie hin? Treffen sie hier alle Autos dieser Welt? Wie geht das überhaupt,
daß so viele in die gleiche Richtung fahren? Sind hier Instinkte am Wirken, die den
Verkehrsfluß wie den Flug eines Vogelschwarmes lenken? Zieht dieser Schwarm auch nach
Süden? - Die Welt hält Wunder bereit, die sich niemand so richtig vorstellen kann.
Mir scheint, die Autos würden weniger. Ich kann dies nicht beurteilen, aber es
kommt mir so vor. Meine Insel kommt zwar kaum langsamer voran, doch die Autoreihen werden wieder
überschaubar. Das Ufer löst sich vom Horizont und rückt näher. Es zieht einen
immer breiter werdenden grünen Streifen hinter sich her. Von beiden Seiten wird es enger. Ich
kann die Reihen zählen. Ich verzähle mich dauernd, so schnell werden es weniger.
Schilder tauchen auf. Ich kann die Schriften nicht lesen. Solche Verkehrsschilder habe
ich noch nie gesehen. Die Schilder sehen alle sehr ähnlich aus. Die meisten sind blau, wie die
Schilder für Parkplätze. Endlich erkenne ich einen Smiley. Ich erkenne erste Worte:
"Achtung, halten Sie Abstand!" -"Verringern Sie die Geschwindigkeit entsprechend der vor Ihnen
fahrenden Fahrzeuge!" - "Achten Sie auf unbedingt auf weitere Anweisungen!" Meine Insel paßt
sich den Autos an. Währenddessen ist der Fluß immer schmaler geworden. Es sind nur noch
Dreierreihen auf beiden Seiten.
Irgendwas rumpelt und schabt unter meiner Insel. Sie wird um so breiter, je langsamer
sie treibt. In der Ferne erkenne ich Ampeln, die im gleichmäßigen Takt die Farben
wechseln. Gleichzeitig reißt meine Insel in der Mitte auf. Genau vor den Ampeln bleibt meine
Insel am Untergrund hängen. Das Loch hat sich in einen Zugang zur U-Bahn verwandelt. Als die
Ampeln rot sind, verlassen alle Fahrer und Fahrerinnen ihre Fahrzeuge und verschwinden im Schacht.
Ich bleibe stehen. Bei Grün bewegt sich die Fahrbahn wie ein Förderband weiter. Ich laufe
neugierig auf dem Mittelstreifen mit.
Bald höre ich schreckliches Quitschen. Ganz hoch und noch lauter als das mir so
vertraute tiefe Brummen. Nun sehe ich, was ich höre. Aus vielen Richtungen kommen
Förderbänder. Alle Autos landen in einer großen Schredderanlage. Kleine
Metallpäckchen fallen in einen etwas rauchenden, säurig riechenden See. Dabei enstehen
kaum Wellen und der allgegenwärtige Lärm schluckt jedes einzelne Geräusch. Die
Päckchen plumsen lautlos und spurlos hinein.
Ich drehe mich um, gehe den ganzen Weg zurück und verschwinde in der U-Bahn. Ich
habe nicht geträumt. Träume sind gemein. Man kommt nie dahin zurück, wo man vorher
war. Mein Park ist immer noch da, nur die Blätter sind weg.
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15.12.2001
Suizidomat:
Heute bin ich wieder zu spät gekommen, weil die U-Bahn nicht fuhr. Wie letzte
Woche. Sie sperren den Zugang zum Bahnsteig ab und stellen Schilder hin, von wo Ersatzverkehr mit
Bussen abfährt. In den Ansagen heißt es immer nur, wegen einem Unfall mit Personenschaden
usw. Wie wenn es im Radio in den Verkehrsmeldungen um eine Demo geht. Jeder weiß was Sache
ist, sie sagen es aber nicht.
Wenn jemand so fertig ist, daß er Schluß machen will, sollte er wenigstens so
viel Grips übrig haben, sich zu überlegen, wo er vor den Zug springt. Muß das zur
Hauptzeit an so einem wichtigen Ort sein? Ist das nicht asozial? Kann man nicht vorher bei der
Telefonseelsorge fragen, wo man sowas am besten macht?
Ich rede oft mit Kollegen über solche Vorfälle. Jeder hat das schonmal erlebt.
Einer hat mal zugesehen. Jemand anderes machte gerade ein Paßbild und hatte danach Probleme,
wieder vom Bahnsteig zu kommen. Mitleid fühlt niemand. Man ärgert sich nur.
Jemand hat eine Idee. Wir fangen an, uns alles vorzustellen. Das wäre doch genau
das richtige Produkt für unsere Firma. Die Dinger müßten ständig gewartet
werden, dabei würden langfristige Verträge und ein paar weitere Arbeitsplätze
herausspringen. Man könnte das Gerät nicht nur da aufstellen, wo dauernd was passiert.
Behörden und andere öffentliche Einrichtungen böten sich ebenfalls an. Vielleicht
sogar größere Wohnanlagen. Niemand würde mehr aus dem Fenster oder vom Dach eines
hohen Gebäudes springen. Es gäbe in der U-Bahn keine Unterbrechungen mehr und die
Mitarbeiter in den Behörden wären sich endlich ihrer Verantwortung für das Wohl
ihrer Klienten bewußt. Sie wüßten nun viel besser, daß sie oft über Tod
oder Leben entscheiden. In den überfüllten Gefängnissen könnte man den einen
oder anderen Platz sparen und endlich die richtgen Leute einsperren.
Das Gerät ähnelt einem Paßfotoautomaten. Der Service ist kostenlos.
Stattdessen schiebt man drinnen seinen Personalausweis in einen Schlitz. Danach verschließt
sich der Eingang und ein Schieber gibt den Monitor frei. Wie am Bankautomaten kann man über
seitliche Knöpfe verschiedenes auswählen. Es gibt nahezu jede passende Musik und man kann
entweder vorformulierte letzte Abschiedsworte auswählen oder eigene auf einer einfachen
Tastatur schreiben. Diese gehen per Email an die eingegebenen Adressen oder an einen Server, der
sie auf einer Webseite präsentiert. Für erfolglos gebliebene Schriftsteller wäre
dies ideal. Jeder Menüpunkt kann übersprungen werden. Man kann jederzeit abbrechen und
den Suizidomaten mit seinem Ausweis unbehelligt verlassen. Es stehen verschiedene Prozeduren zur
Verfügung. Der Schmerzgrad ist von Null bis Hundert einstellbar. Der übrig gebliebene
Körper wird mit einer relativ gering hohen Dosis Neutronenstrahlung versaftet und in einem
Behälter gesammelt. Anschließend wird mit Sprühnebel kurz gereinigt. Danach leuchtet
Außen wieder die Anzeige, daß das Gerät bereit ist. Alle notwendigen
Sicherheitsbestimmungen werden erfüllt.
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15.12.01
Mails schreiben:
Als ich noch nicht wußte, wofür man einen Computer gebrauchen kann, schrieb
ich viele Briefe. Zuerst mit der Schreibmaschine, dann mit der Hand. Angeblich fand ich
maschinengeschriebene Briefe unpersönlich. In Wirklichkeit ging meine Schreibmaschine immer
mehr kaputt. Ich hatte viele Füller, die alle eingetrocknet sind. Eine Zeit lang klebte ich
bunte Bildchen auf die Blätter, oft auch auf die Umschläge. Ich schrieb viele
Liebesbriefe und viel Blödsinn an Firmen und Behörden. Von da kamen immer wieder
unerwartet lebendige Antworten.
Irgendwann in den Neunzigern, als Berlin nicht mehr eingezäunt war, hörte ich
mit dem Briefeschreiben auf. Wie das kam, weiß ich nicht. Es bedeutete mir sehr viel, anderen
eine Freude zu machen und später selber einen netten Brief im Kasten zu finden. Das Scheiben
war wie eine Meditation. Ich lauschte, was ich so denke und schrieb es auf. Vielleicht habe ich es
irgendwann verlernt so zu schreiben und deshalb kamen immer weniger Antworten. Vielleicht weiß
dies Katrin.
Ende 1999 kaufte ich einen Computer und sah in der Tastatur zuerst nur eine gar nicht
mehr unbedingt notwendige Vorrichtung, diesen zu bedienen. Mit meinem Internetzugang bekam ich eine
Mailadresse. Zuerst nutzte ich sie wenig. Heute verbringe ich die meiste Zeit am Computer damit,
Mails zu schreiben.
Es ist für mich das gleiche, wie Briefe zu schreiben. Ich mag keine
Postkartenmails, mit denen nur Belanglosigkeiten ausgetauscht werden. Ich mag keine reinen
Nachrichtenmails. Wenn mich jemand nur quotet und kommentiert, schreibe ich normalerweise kein
zweites Mal. Ich habe ein paar Leute kennengelernt, die das ähnlich sehen und mit denen es
Spaß macht, Mails zu schreiben.
Im Internet steht es jedem frei, andere zu verarschen ohne daß dies jemand
nachprüfen kann. Doch wenn man beim Lesen das Gefühl hat, der andere schreibt ehrlich und
verstellt sich nicht, dann ist das sehr schön. Schön sind die Möglichkeiten des
Internets. Hat man früher beim Schreiben ein Lexikon oder alte Zeitungen gewälzt, so kann
man heute schnell mal eben eine Suchmaschine starten. Will man jemand was zeigen, schickt man
einfach die Adresse, wo es zu sehen ist.
Immer wieder mal nach Mails zu schauen ist viel mehr, als nur einmal am Tag den
Briefkasten aufzumachen. Mails können jederzeit kommen. Das artet manchmal aus, weil man
eigentlich etwas anderes als lesen und antworten tun wollte. Doch es wäre schlimm, wenn
längere Zeit niemand schreiben würde.
Ich hab schon öfter auf Englisch geschrieben und dann stellte sich heraus, der
andere wohnt auch in Berlin. Leute, denen das alles weniger bedeutet behaupten, durch Computer und
Internet würden die Menschen verlernen, miteinander zu kommunizieren. Ich habe seither immer
besser Englisch gelernt und finde es faszinierend, daß es völlig egal ist, ob die Leute
mit denen ich mich austausche, an der Westküste Amerikas, in Skandinavien oder ein paar
Straßen weiter leben. Ich bekomme zu Leuten Kontakt, zu denen ich sonst keinen bekäme,
selbst wenn sie im selben Haus wohnen sollten. Diese Kontakte kommen über gemeinsame
Interessen und über nichts anderes sonst zustande.
Mailen ist im Grunde etwas altmodisches. Es ist so altmodisch wie das Briefeschreiben
selbst. Es ist eine zeitgemäße Art, altmodisch zu sein. Das Internet bietet viel
direktere Möglichkeiten. Man kann dem anderen zur selben Zeit auf den Bildschirn schreiben,
man kann miteinander reden und sich dabei sehen. Dies ist mit wenig technischem Aufwand
möglich. Um eine schöne Mail zu schreiben, braucht man viel Zeit und Ruhe und jemand, der
wirklich antworten wird.
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14.12.01
Mail an Billy:
Ich erwartete keine Antwort und lange kam keine. Ich versuchte Basic zu lernen und stand
vor einem mich anhaltend ärgernden Problem. Ich hatte ein simples Programm zum Zahlenraten
geschrieben, das nur ein Spiel lang funktionierte. Es war mehr ein Spaß gewesen, den Quelltext
an Bill zu schicken und zu hoffen, er findet den Fehler. Bill war in der Schule immer ganz gut
gewesen, er konnte alles.
Als ich nicht mehr dran dachte, fand ich seine Antwort. Er schrieb nichts über
sich, wo er eigentlich steckt und was er so macht. Ich hatte nur über Bekannte gehört,
Bill gehöre nun nicht mehr zu den normalen Menschen, er wäre jetzt was besseres. Er
schickte mir das Programm zurück. Ich fand absolut keine Veränderung, aber es lief. Ich
probierte es immer wieder aus.
Bill entschuldigte sich, daß er mich so lange hat warten lassen. Er habe mich
über all die Jahre nie vergessen und sich sehr über meine Mail gefreut. Seine Antwort
dauerte so lange, weil er sich mit Basic schon lange nicht mehr befaßt hat. Er verstand mein
Programm zuerst nicht und mußte sich wieder einarbeiten. Einen Fehler konnte er nicht finden,
im Gegenteil, er bewundere, was ich da gemacht habe. Früher hätte er mir sowas nie
zugetraut. Er hat das Zahlenraten über eine Woche lang gespielt. Vielleicht lagt der Fehler an
meinem Betriebssystem und nicht an meinem Programm.
Als ich mich bedanken und noch etwas von alten Tagen schwärmen wollte, kam meine
Mail als unzustellbar zurück: There is no such recipient.
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